Was bedeutet ›Achtsamkeit‹?
Achtsamkeit steht in einer sehr alten Tradition. Sie ist keineswegs an eine bestimmte Religion gebunden, sondern gründet auf übergeordnete weltanschauliche, ethische und spirituelle Zusammenhänge. In der buddhistischen Psychologie beinhaltet sie den Kern des Befreiungsweges aus den allgemeinen Ursachen menschlichen Leidens.
Fragt man einen buddhistischen Mönch, z. B. den im Westen bekannten Friedensaktivist und vietnamesischen Mönch Thich Nhat nach der Bedeutung von Achtsamkeit, so antwortet er:
»Achtsamkeit lässt uns erkennen,
was im gegenwärtigen Augenblick
in uns und um uns herum wirklich geschieht.«
Seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde Achtsamkeit auch im Westen bekannt. Durch die Verbreitung von Meditation als Teil des aus Indien stammenden Yogas, wuchs das Interesse der Neurowissenschaften an der Untersuchung meditativer Zustände. Die wachsende Anzahl von Studien kann durch Messungen mithilfe bildgebender Verfahren zeigen, dass Meditation und Achtsamkeit im Gehirn positive Veränderungen hervorrufen. So konnte ein Team der Universität Gießen eine Zunahme der Dichte der grauen Substanz im Gehirn nachweisen. Die Teilnehmer hatten an einem achtwöchigen MBSR-Kurs (Mindful Based Stress Reduction) nach Jon Kabat-Zinn teilgenommen.
Kabat-Zinns Forschung hat die Entstehung und Entwicklung des wissenschaftlichen Interesses an der Bedeutung von Achtsamkeit entscheidend mitgeprägt und wesentlich dazu beigetragen, dass Achtsamkeit als Methode Einzug gehalten hat in den Mainstream von Medizin, Psychologie, medizinischen Ausbildungsstätten und innovativen Unternehmen.
So gibt Jon Kabat-Zinn in seinen Achtsamkeitstrainings zur Stressbewältigung folgende Beschreibung von Achtsamkeit:
»Achtsamkeit ist jenes Gewahrsein, das entsteht,
wenn sich die Aufmerksamkeit
mit Absicht und ohne zu bewerten
auf die Erfahrungen richtet,
die sich von Moment zu Moment entfalten.«
Wenn wir Achtsamkeit üben, dann halten wir inne und fragen uns: »Was ist JETZT?«.
Wir schalten nicht »ab«, ganz im Gegenteil: wir schalten uns SELBST »ein«. Wir lassen die Beschäftigung mit der Außenwelt in den Hintergrund treten und wenden uns unseren Körperempfindungen, Gefühlen und Gedanken zu. Wir nehmen unseren inneren Status wahr, ohne uns darin zu verlieren. Wir tauchen in den gegenwärtigen Augenblick ein und werden wach für das, was in uns geschieht.
Das ist nicht immer angenehm oder entspannend; daher entwickeln wir, besonders zum Beginn des Übungsweges, eine wohlwollende Haltung uns selbst gegenüber. Wir lernen mit uns selbst Freundschaft zu schließen. In diesem Lernprozess nehmen wir bewusst wahr, in welcher Weise wir uns hart kritisieren und fordernd antreiben – ohne uns damit zu identifizieren. Wir beobachten unser inneres Geschehen aus einer wohlwollenden Offenheit, Distanz und Akzeptanz heraus. Um zu dieser innere Haltung kommen zu können, bedarf es Übung. In der Meditation nehmen wir Kontakt zu unserem inneren Geschehen auf und entdecken den umherschweifenden Geist. Viele Menschen sind sehr erschrocken über die auftauchenden Gedanken und möchten es gern »anders haben«. Doch genau an diesem Punkt lohnt es sich dranzubleiben, da kann sich der Knoten lösen. Die inneren Kämpfe, bei denen wir an uns (ver)zweifeln, uns hilflos fühlen oder uns selbst ablehnen, können durch die Praxis von Achtsamkeit aus einer anderen Perspektive erlebt werden: Aus der Enge kann Weite und Balance entstehen.
Wir können täglich neu beginnen, in Balance zu bleiben oder in Balance zu kommen. Mit der Zeit entwickeln wir ein tieferes Verständnis für uns selbst und andere Menschen. Unsere alten Glaubenssätze und Denkmuster werden uns bewusst. Wir können sie leichter erkennen und auch verstehen. Daraus kann ein liebevolles Mitgefühl für uns selbst entstehen, es kann sich ausweiten auf unsere Mitmenschen. Unser Blick für die Welt wird offener und weiter, wir erleben auch Stress anders. Unsere Möglichkeiten, Belastungen wie Zeitdruck, Konflikten und Krisen zu bewältigen entwickeln sich. Das persönliche Repertoire an Handlungsmöglichkeiten wächst, weil wir lernen, uns selbst und die Dinge anders zu betrachten.